Seit zur Eindämmung der Corona-Pandemie verschiedene Maßnahmen, wie z.B. Kontaktbeschränkungen oder das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes vonseiten des Staates verhängt wurden, finden deutschlandweit Proteste gegen diese Anordnungen statt. Zu Beginn nahmen an den sogenannten „Anti-Corona-Protesten“ etliche Menschen teil, die von Arbeitslosigkeit, Insolvenz, Existenzängsten etc. bedroht waren. Auch Personen und Gruppen aus der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung, die für sich ein linkes Selbstverständnis in Anspruch nehmen, waren anfangs Teil der Proteste.
Milieus übernehmen
Seit Sommer 2020 werden diese „Anti-Corona-Proteste“ jedoch zunehmend von einem Milieu dominiert, das sich aus Esoteriker:innen, Reichsbürger:innen, Impfgegner:innen, Trump- und/oder Putin-Fans und Anhänger:innen von verschiedensten Verschwörungserzählungen wie z.B. der antisemitischen „Q‑Anon“-Bewegung zusammensetzt.
All diese Strömungen unterscheiden sich zwar zum Teil massiv in ihren Glaubenssätzen und Überzeugungen, dennoch gibt es inhaltliche Schnittstellen und politische Gemeinsamkeiten. Der Wissenschaft wird von all diesen Personen nicht nur Aussagekraft und Gültigkeit abgesprochen, sondern auch eine Schuld für die aktuellen ökologischen und ökonomischen Probleme zugeschrieben. Hinzu kommt, insbesondere aus der esoterischen Ecke, unter dem Deckmäntelchen der Menschenliebe eine Vorliebe für Okkultismus und sozialdarwinistische Erklärungen, die Erkrankungen von Menschen erklären sollen. Gesundheit wird zur individuellen Angelegenheit eines jeden Menschen erklärt und losgelöst von den gesellschaftlichen Bedingungen betrachtet. Die Proteste werden emotional dramaturgisch aufgeladen. Die Auflage zum Tragen einer Mund-Nasen-Maske reicht für die Teilnehmer:innen aus, um wahlweise von der Wiederkehr des Nationalsozialismus oder der DDR zu fabulieren. Eine Analyse der herrschenden Verhältnisse in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft findet nicht statt.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, dass bei den Kundgebungen und Demonstrationen keinerlei Forderungen nach einer besseren Bezahlung für Pflegekräfte in den Krankenhäusern zu hören sind, oder danach, die Privatisierung des Gesundheitssystems rückgängig zu machen.
Was die Inhalte betrifft, können Personen aller Strömungen der „Anti-Corona-Proteste“ an die Versatzstücke aus der Ideenwelt der „Reichsbürger“ anknüpfen. Die generelle Ablehnung der vom Staat verhängten Maßnahmen lässt sich wunderbar mit dem Reichsbürgerlichen Wahn verbinden, die Bundesrepublik Deutschland sei überhaupt kein souveräner Staat. Somit sind Verordnungen wie das Tragen einer Mund-Nasen-Maske aus Sicht vieler Teilnehmer:innen von „Anti-Corona-Protesten“ rechtlich überhaupt nicht bindend. Ähnlich verhält es sich mit den zum Teil antisemitischen Verschwörungserzählungen, auch diese werden zur vermeintlichen Erklärung von jeglichen Problemen der heutigen Gesellschaft herangezogen. Wenn schon vor der Pandemie daran geglaubt wurde, dass geheime Gruppen daran arbeiten, die Welt zu unterjochen, dann erscheint die globale Corona-Pandemie als logische Konsequenz sämtlicher verschwörerischer Bemühungen.
Seit dem Spätsommer 2020 werden derartige Proteste bundesweit von der sogenannten „Querdenken-Bewegung“ dominiert. Hinter „Querdenken“ steht Michael Ballweg aus Stuttgart, er scheint sich an die Spitze der „Anti-Corona-Proteste“ setzen zu wollen. Das Label „Querdenken“ lohnt sich auch finanziell für ihn. Dass die Führungspersonen aus dem esoterischen Milieu durch den Verkauf von Büchern, Seminaren und Merchandise an der Suche ihrer Anhänger:innenschaft nach individueller Selbstverwirklichung und Freiheit ein dickes Plus erwirtschaften, kann als weiteres Charakteristikum dieser Szene bezeichnet werden.
Die Proteste vor Ort
Auch in Bremen ließen sich diese Entwicklungen beobachten. Die Mehrzahl der Teilnehmer:innen an den „Anti-Corona-Protesten“ wurde über Chatgruppen wie „Widerstand 2020“, „Nicht ohne uns in Bremen“ und den „Corona-Rebellen“ mobilisiert. In diesen Chatgruppen fanden auch Organisator:innen zusammen. Die Bezüge zu den oben genannten Strömungen waren dabei unterschiedlich stark ausgeprägt – und sind es immer noch.
Im Verlauf der 2020 abgehaltenen Kundgebungen bildete sich – im Einklang mit einem bundesweiten Trend – ein fester Personenkreis heraus, der die Organisation und Planung der Proteste übernahm und unter der Bezeichnung „Querdenken 421“ firmiert. Die Planungstreffen u.a. für die „Querdenken“-Demonstration am 05.12.2020 fanden in der Kneipe „Little Dance“ in Bremen-Walle statt.
Bremer Hauptakteur:innen
Der lokale Orga-Kreis setzt sich aktuell aus Personen zusammen die aus unterschiedlichen Spektren kommen:
- Immer wieder nimmt der „Reichsbürger“ Hans-Christian Göttsche an den Kundgebungen teil. Göttsche betreibt einen Youtube-Kanal auf dem er seine krude Sicht auf die Lage der Welt mitteilt.
- Auch Kai Vittinghoff ist der Reichsbürgerbewegung zuzurechnen, er ist Mitbetreiber des bereits erwähnten „Little Dance“ in Bremen-Walle.
- Aktive Bestandteile der Organisationskreises sind außerdem Zeynep Papoutsalaki, Kolja Beckmann, René Stelljes (der in Walle einen IT-Laden betreibt) und der Q‑Anon-Anhänger Michael Schmidt-Ackermann (Betreiber eines Goldhandels aus Bremen-Findorff).
- Regelmäßig haben an den Kundgebungen auch die Nazis Nico Jürgensmeier und Dave Sander aus dem Umfeld der Partei „Die Rechte“ bzw. von „Phalanx 18“ teilgenommen.
- Hin und wieder spült es auch andere Vertreter der Bremer Naziszene auf die Veranstaltungen. So nahmen an der Kundgebung in Bremen im März u.a. der Althooligan Uwe Denker und Markus Neumann (seines Zeichens Mitglied der „Endstufe Crew“) teil.
Fazit und Einordnung
Mit den „Anti-Corona-Protesten“ hat sich eine „neue“ Bewegung gebildet. Die Teilnehmer:innen stammen aus verschiedenen Spektren, die ganz unterschiedliche Ziele verfolgen. Diese Milieus existierten schon vorher, konnten und wollten in der Regel jedoch nicht so in die Öffentlichkeit treten, wie es aktuell der Fall ist. Die „Corona-Maßnahmen“, gegen die nun agiert wird, bilden den Rahmen für ihren gemeinsamen Aktionismus.
Für klassische Nazis bietet diese Bewegung zwar eine Reihe von Anknüpfungspunkten. Dennoch ist die „Anti-Corona-Bewegung“ nicht darauf angewiesen, dass Nazis und rechte Hooligans an ihren Protesten teilnehmen. Gegen ihre Teilnahme wird sich von den Organisator:innen jedoch keineswegs ausgesprochen. Nazis kommen damit in die Position, sich bei den Protesten von teilweise Tausenden von Menschen wie Fische im Wasser bewegen zu können.
Auch wenn im Vergleich zu anderen Städten die Teilnehmer:innenzahl in Bremen eher niedrig ist und der Veranstaltungsort Bürgerweide im Attraktivitätsranking am unteren Ende angesiedelt sein dürfte, sind die hier regelmäßig stattfindenden Kundgebungen als Ort der kollektiven Selbstvergewisserung des „Anti-Corona-Maßnahmen-Verschwörungsgläubigen-Milieus“ zu verstehen. Die langatmigen, verworrenen Redebeiträge bestärken die Teilnehmer:innen in ihrer verschrobenen Sicht auf die Dinge. Die Teilnehmenden am antifaschistischen Gegenprotest wurden und werden dabei immer wieder als Feinde benannt. Dass es nicht bei verbalen Attacken bleibt, zeigen nicht nur die Vorkommnisse in Leipzig oder Kassel, sondern auch der kürzliche Angriff von Nazis auf junge Antifas in Syke am 05.03.2021.
Stand: April 2021