4. November 2006, Bremen-Walle. Der 4. November 2006 in Bremen wird der norddeutschen Naziszene sicherlich noch lange in unschöner Erinnerung bleiben: Etwa 10.000 Menschen beteiligen sich den ganzen Tag über an verschiedensten Aktionen gegen den geplanten Naziaufmarsch in Bremen-Walle.
Bereits am Morgen versammeln sich mehrere Tausend Menschen am Depot in Gröpelingen, um sich der antifaschistischen Gegendemonstration anzuschließen. Die durch das Oberverwaltungsgericht stark verkürzte Demoroute soll von dort aus auf der Gröpelinger Heerstraße in Richtung Stadtmitte bis kurz vor den Ohlenhof führen. Die Nazis wollen dagegen vom Waller Bahnhof aus marschieren, ebenfalls in Richtung Ohlenhof.
Siehe auch:
Fotos aller Nazis am 4. November 2006 in Bremen-Walle
BREMEN – Großdemo und Bullenprovokation (indymedia-Artikel)
Naziaufmarsch in Bremen gestoppt (indymedia-Artikel)
Erfolg in Bremen ?! (indymedia-Artikel)
„Aktionswochenende” der NPD/JN Verden (indymedia-Artikel)
Das Polizeikonzept
Zwischen beiden geplanten Routen-Endpunkten hat die Polizei eine sog. „Pufferzone“ von mehreren hundert Metern Länge abgesperrt die verhindern soll, dass Gegendemo und Nazi-Aufmarsch aufeinandertreffen. An der antifaschistischen Seite dieser Zone steht eine dünne Polizeikette, die als „Lockmittel“ für den „autonomen“ Antifablock herhalten soll. Polizeiplänen zufolge sollte dieser Block nach einem militanten Durchbruch inklusive des Lautsprecherwagens vom Rest der Demo gespalten und eingekesselt werden. Dieses Konzept geht jedoch nicht auf, da die Polizeikette letzendlich von einem geschlossenen Block verschiedenster Leute weggedrängt wird und die Demo damit nicht mehr in „Gut“ und „Böse“ spaltbar ist. Das geschlossene Auftreten des gesamten Bündnisses verhindert somit eine Spaltung der Demonstration.
Letzendlich gelangen mehrere tausend Menschen in die „Pufferzone“ und besetzen auf diese Weise etwa 2/3 der Strecke des geplanten Nazi-Aufmarsches. Bremens Bürgermeister Böhrnsen und Abschiebe-Innensenator Röwekamp stoppen dagegen an der ehemaligen Absperrung, nachdem sie sich für ein paar Foto-Aufnahmen kurz öffentlichkeitswirksam an die Spitze eines SPD+CDU-Blockes gestellt hatten. Danach waren sie nicht mehr gesehen.
Antifaschistische Gegenaktionen
Währenddessen besetzen etwa 150 Antifas in Walle die Bahnschienen und legen dadurch jeglichen Bahnverkehr erst einmal lahm. Dadurch sitzen in Bremen-Burg mehrere dutzend Nazis fest, die von Bremen-Nord aus mit dem Zug zum Waller Bahnhof fahren wollen. Erst nach erheblicher Verzögerung geht das braune Pack schließlich auf Reisen.
Dem Demo-Motto und Konsens des breiten antifaschistischen Bündnisses „Keinen Meter!“ wird damit bereits eine enorme Ernsthaftigkeit verliehen, als die Nazis selber noch nicht einmal vor Ort sind. Durch entschlossenes gemeinsames Vorgehen der verschiedenen Gruppen und Organisationen können die Nazis erst mit erheblicher Verspätung loslatschen und dann auch nur einen Bruchteil ihrer ursprünglich geplanten Route zurücklegen. Des weiteren sind sie zahlenmäßig dezimiert: einige Faschos werden von Antifas schon im Vorfeld unsanft wieder nach Hause geschickt, als sie versuchen zu Fuß zum Waller Bahnhof zu gelangen.
Auf der antifaschistischen Bündnisdemo kommt es unterdessen zu massiven gewalttätigen Übergriffen der Polizei, da tausende Menschen nach wie vor die Nazi-Route blockieren und auch nach wiederholten Aufforderungen und Drohungen nicht gewillt sind, diese zu räumen. Übergriffe der Polizei lassen die Situation dann zeitweise eskalieren: Vermummte Polizeikräfte prügeln sich durch die auf der Straße stehenden Menschen und zerstören die Lautsprecheranlage.
Auch an den Absperrungen kommt es zu Übergriffen, mehrmals sprüht die Polizei aus kürzester Entfernung massiv Pfefferspray auf die Köpfe von GegendemonstratInnen, wodurch etliche Menschen Augenverletzungen erleiden. Dazu gibt es Prellungen durch Schlagstöcke. Hunde einer Hundestaffel beißen sich (ohne Maulkorb) regelrecht von Hinten nach Vorne durch die Demo, es gibt mehrere tiefe Bisswunden. Unter den Verletzten befinden sich viele Bürger und jüngere Menschen, die zurecht entsetzt auf das reagieren, was Antifas in der Bundesrepublik an beinahe jedem Wochenende erleben dürfen.
Aufgrund von Geschlossenheit und entschiedener Gegenwehr gelingt es den Bullen jedoch nicht mal ansatzweise die Blockade aufzulösen und die Antifa-Demo zu vertreiben. Besonders hervorgehoben werden soll an dieser Stelle der gemeinsame entschlossene Widerstand verschiedenster Gruppierungen gegen die Polizeiprovokationen und ‑übergriffe, z. B. von IG Metall und ver.di, SchülerInnen oder autonomen Antifas. Auch etliche BürgerInnen und AnwohnerInnen beteiligen sich an den Ketten gegen die Polizei und tragen damit maßgeblich zum Erfolg bei.
Bereits im Vorfeld des 4.11. hatten sich mehrere Bündnisse zu Gegenaktivitäten gebildet, u.a. ein breites Bürgerbündnis und ein Jugendbündnis. Die ganze Stadt war voll von Mobilisierungsmaterial und viele Menschen investierten Unmengen an Zeit und Mühe um den 4.11. zu einem erfolgreichen antifaschistischem Tag werden zu lassen. An dieser Stelle nochmal ein dickes Danke an alle die sich in irgendeiner Form im Vorfeld oder am 4.11. selber an Gegenaktionen beteiligt haben. Rock on!
Positiv ist auch zu bemerken, dass es Polizei und Innensenator Röwekamp weder im Vorfeld noch auf der Demo selber gelungen ist, den Protest gegen den Nazi-Aufmarsch in „bürgerlich“, „links-autonom“, „gut“, „böse“ usw.usf. zu spalten. Bleibt zu hoffen, dass auch bei zukünfigen Aktionen viele Menschen gemeinsam gegen Nazis auf die Straße gehen.
Kuriosität am Rande: Sogar die Bremer Republikaner wollten sich unter dem Motto „gegen linken und rechten Extremismus“ an der Gegendemonstration beteiligen. Wirklich aufgetaucht sind sie letztlich schlauerweise nicht.
Die Nazis
Alles in Allem war es ein mehr als enttäuschender Auftritt für die Nazis, besonders für die Bremer NPD. Selbst nach monatelanger Vorlaufzeit und großmäuliger Ankündigung bekamen sie gerade mal 124 Kameraden auf die Straße.
Wenn Zivilbullen und „zufällige TeilnehmerInnen“ abzogen werden, sind es noch weniger. Zusammengesetzt hat sich der Haufen aus den Bremer und Bremerhavener NPD- und JN-Mitgliedern und ‑Sympatisanten, einigen Glatzen aus der hiesigen Kameradschaftsszene (z. B. „Wesersturm“) und dem Bremer Westen, darunter viele „Saufnazis“. Von Außerhalb angereist waren an die 25 Nazis aus der Region Ostfriesland/Oldenburg, weitere Gruppen kamen aus dem Schaumburger/Mindener Land und aus dem Großraum Hamburg. Große Teile der Naziszene aus Bremen und dem Umland waren gar nicht vertreten, ebensowenig die üblichen Reiseschreihälse der niedersächischen und nordrhein-westfälischen NPD.
Redner auf dem Naziaufmarsch sind Horst „NPD-Horst“ Görmann (Landesvorsitzender der Bremer NPD aus Bremerhaven), Hans-Gerd Wiechmann (Lüneburg), Alexander Hohensee und Christian Worch (Hamburg) und Adolf Dammann (Buxtehude).
Nach anfänglich langer Warterei steht sich das nationale Elend dann nach einigen hundert Metern die Beine in den Bauch, da tausende GegendemonstrantInnen sich nicht räumen lassen. Gegen 17 Uhr erlöst die Polizei die Nazis schließlich und schickt sie wieder nach Hause.
Braune Streitereien
Bereits im Vorfeld des Aufmarsches gibt es in Bremen interne Streitereien über Sinn und Unsinn des Aufmarsches. Freie Nationalisten, Hammerskins, Nazihools und einige Kameradschaften beteiligen sich gar nicht erst an der Mobilisierung und Vorbereitung. Überregional eskalieren die Streitereien als bekannt wird, dass maßgebliche NPD/JN-Aktivisten mit „Ausländern unter einer Decke stecken“ – konkret gemeint war wohl die führende Bremer JNlerin Louisa Yardim, ihrerseits Tochter eines nicht-deutschen Vaters und der NPD-Aktivistin Gabriela Yardim. Mehrere niedersächische Kameradschaften und NPD/JN-Verbände sagen ihre Unterstützung daraufhin ab und distanzieren sich von der Bremer NPD. Die Heisenhof-Bande aus Dörverden kündigt sogar ein zeitgleich stattfindendes „gesunde Ernährung“-Wochenende mit „Pooh dem Bären“ alias Matthias Schultz (seinerseits Experte für eben dieses Themengebiet) auf dem Heisenhof an.
Auch im Internet schlägt die „Mischlings-Demo“ hohe Wellen (und tut es immer noch). Das rechtsextreme Störtebeker-Netz kopiert gleich mal unseren Artikel über das Outing der bereits erwähnten Nazi-Frauen Gabriela und Louisa Yardim, inkl. Portraitfotos und Wohnadresse.
Der Frust der Bremer Nazis über den Verlauf des Tages entlädt sich schließlich nicht nur am Abend des 4.11., wo sie abermals die Schaufensterscheibe des VVN-BdA-Büros in Bremen-Walle mit einem Gullydeckel einwerfen, sondern auch im Verlauf der folgenden Tage in diversen Internetforen. Stellvertretend an dieser Stelle nur ein Zitat: „es sollte nicht darum gehen zeit zu verlieren und den Idioten die Chance zu geben sich bei der Bevölkerung anzubiedern und Zahlenstatistiken wie 10000 gegen 100 zu schaffen. Ich bin echt stinksauer“.
Überhaupt scheint die Bremer NPD/JN in der Naziszene als „Sauhaufen“ zu gelten: Interne Streitereien, Bündnisse mit türkischen Faschisten der MHP, V‑Mann-Vorwürfe gegen Führungskader. Dazu verschwinden hin und wieder nicht nur „treue“ Kameraden in der Versenkung, sondern auch Parteigelder. Dazu kommen dann peinliche öffentliche Auftritte wie der am 4.11.: Ein erbärmlicher Haufen von (teilweise betrunkenen) Dumpfbacken, die vor laufender Kamera Journalisten bedrohen und anpöbeln. Wer sich die Fotos führender regionaler NPDler an diesem Tag anguckt, weiß wie gefrustete Nazis aussehen.
Fazit
Der erfolgreiche Verlauf des Tages ist dennoch mit Vorsicht zu genießen. Bloß weil es nur für ein erbärmliches Zucken der braunen Scheiße gereicht hat, heißt das noch lange nicht, dass die regionale Naziszene weniger vernetzt oder weniger gefährlich wäre. Das Ziel für die Zukunft muss daher lauten, Nazis weiterhin und immer wieder entschlossen und offensiv entgegenzutreten und ihrer menschenverachtenden Ideologie keinen Raum zu lassen – keinen Meter! Wir werden unseren Teil dazu beitragen.
bremen.antifa.net, November 2006.
Wichtig!
Aufgrund der zahlreichen Übergriffe und Festnahmen bittet der Bremer Ermittlungsauschuss (EA) um Informationen zu Polizeiaktionen, Übergriffen und Verhaftungen. Wenn ihr Betroffene und/oder Festgenommene seid oder wenn ihr Polizeiübergriffe beobachtet habt, meldet euch bitte beim EA!
Augenzeugenberichte von Polizeiübergriffen am 04.11.2006 in Bremen-Walle.
Alle folgenden Zitate stammen aus einer Pressemappe des antifaschistischen Bündnisses, die im Rahmen einer Pressekonferenz am 22. November an MedienvertreterInnen verteilt wurde.
Resolution der AWO-Kreiskonferenz gegen Polizeiübergriffe
Tausende haben am vergangenen Sonnabend gegen den Aufmarsch der NPD im Bremer Westen demonstriert. Auch die AWO Bremen gehörte mit zu den Initiatoren des Protestes. In einem gemeinsamen Aufruf hatten Geschäftsführung, Betriebsrat und Vorstand zur Teilnahme an der Demonstration aufgerufen. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Mitglieder waren diesem Aufruf gefolgt und demonstrierten friedlich gegen die Nazis. Doch was sie am Rande der Demonstration an Übergriffen der Polizei miterleben mussten, war schockierend. Da wurden einzelne Demonstranten herausgegriffen, verprügelt und dann wieder laufen gelassen. Da wurden Hunde ohne Maulkorb und an langer Leine durch die Menschenmenge geführt. Da wurden ganz normale Bürger von der Polizei ohne Grund aggressiv angegangen. All diese persönlichen Erlebnisse veranlasste am gestrigen Abend die Kreiskonferenz der AWO Bremen dazu, einstimmig eine Resolution zu verabschieden. Darin wird das streckenweise überzogene Vorgehen der Einsatzkräfte der Polizei gegen einige Teilnehmer der Demonstration verurteilt. „Auch bei einer Demonstration haben die Einsatzkräfte die Verhältnismäßigkeit der einzusetzenden Mittel zu beachten. In Deutschland muss sich jeder Bürger in jeder Situation auf die korrekte Handlungsweise seiner Polizeikräfte verlassen können.“ Auf der Demonstration am vergangenen Sonnabend sei dies eindeutig nicht so gewesen. Die AWO Bremen wird darüber hinaus das Gespräch mit der Polizei suchen.
gez. Dr. A. W., AWO-Kreisvorsitzender
Ich habe mich mit einigen IG Metallern von Daimler Chrysler vor den Wasserwerfern hingestellt und das Transparent „Faschismus ist keine Meinung sondern ein Verbrechen“ mitgetragen. Wir konnten genau beobachten wie Polizisten Jugendliche provozierten. Jugendliche Schüler wurden von Hunden gebissen oder brutal aus der Menge gezerrt und abgeführt. Nur durch die Anwesenheit von Gewerkschaftern und einigen mutigen „älteren Mitbürgern“ traute sich die Polizei nicht, die Versammlung gewaltsam aufzulösen.
G. G., Vertrauensmann der IG Metall bei Daimler Chrysler
Der Konfrontation und offensichtlichen Einschüchterungstaktik der Polizeieinsätze standen nicht wir Älteren gegenüber, sondern unsere Jugend. Sicher, sie waren schwarz gekleidet, aber sind sie deshalb Anhänger der Autonomen? Sicher nicht! Auch ich als ältere Frau fühlte mich in meiner schwarzen Lederkleidung wohler. Ich habe junge Mädchen mit von Pfefferspray verbrannten Gesichtern gesehen und war entsetzt. In den Nachrichten wurde später von verletzten Polizisten geredet – diese Mädchen wurden nicht gezeigt, von ihnen wurde nicht gesprochen! Einige ältere Frauen, wenige ältere Männer und die IG Metaller waren in den vorderen Reihen präsent, sprachen mit den Jugendlichen, mit den Polizeibeamten, versuchten ein wenig von der massiven Spannung herauszunehmen, was uns auch gelang. Erst nach mehrmaliger provokativer Räumungsaufforderung von Seiten der Polizeieinsatzleitung und „Klarmachen zum Angriff“ wurde es sehr unruhig. (...) Wo waren unsere politischen Vertreter und Parteien? Sie waren in den vorderen Reihen nirgends zu sehen, wo sie meines Erachtens hätten stehen müssen, nämlich vor unserer Jugend. (...) Ich schäme mich dafür, dass wir uns hinter unseren „Kids“ verstecken, dass wir zu feige sind, vor ihnen zu stehen, um sie zu schützen, um ihnen zu zeigen „Ihr könnt euch auf uns verlassen, wir erlauben keine Wiederholung der Geschichte“.
E. S.
Leider musste ich bei der Demo gegen die NPD ein oft völlig überzogenes Verhalten der Polizei beobachten. Da wurden Hunde ohne Maulkorb und an langer Leine zwischen Familien mit kleinen Kindern geführt und haben Angst verbreitet. Ich bin keine Freundin der autonomen Gruppen, aber die Zerstörung des Lautsprecherwagens war völlig willkürlich und nicht nötig. Auch die Art wie mit Pfefferspray umgegangen wurde war zumindest fragwürdig. Es standen große Gruppen erkennbar friedliche Bürger, zum Teil auch Behinderte in der Demo. Auch hier wurde großzügig Pfefferspray verteilt. Am meisten hat mich der Umgang mit einzelnen Personen der autonomen Szene erschreckt. Hier wurden Einzelpersonen aus der Gruppe rausgeholt und am Rande der Demo regelrecht zusammengeprügelt. Das ist unserer Polizei unwürdig. Da stellt sich mir mich die Frage „Wo sieht unsere Polizei eigentlich den Feind der Demokratie“? Meine bisher gute Meinung über die Rechtmäßigkeit bei Polizeieinsätzen ist nach dieser Demo erheblich ins wanken geraten.
G. B., auch als Leserbrief verschickt
Für die Beurteilung der Frage, warum es bei der angemeldeten Gegendemonstration zu gewaltsamen Einsätzen kam, müsste man eigentlich wissen, welche Taktik die Innenbehörde für die Gesamtaktion verfolgte. Nach intensiver Beobachtung der Szenerie über 6 Stunden und einer Reihe von Gesprächen mit beteiligten Polizeibeamten vermute ich, dass die Einsatzleitung von vornherein mit einer erheblichen Behinderung für die der NPD eingeräumten Demonstrationsstrecke gerechnet hat. Wären die Gegendemonstranten der Aufforderung gefolgt, den Zug bereits in Höhe der Grasberger Straße zu beenden, hätte die Einsatzleitung flugs die Stunden vor Beginn der Gegendemonstration eingerichtete Auffangsperre am Bohlenweg aufheben müssen. Dort wurden wir nämlich von mehreren hundert zumeist martialisch ausgestatteten Ordnungshütern mit zwei Wasserwerfern, einem Räumfahrzeug und einer Vielzahl von Einsatzfahrzeugen empfangen, die die Waller Heerstraße bis zum Waldautheater besetzt hielten. Zu diesem Scenario gehörte natürlich auch die entsprechende Randale, denn wie sonst hätte man die Verkürzung der Nazi-Marschstrecke begründen können. Nichts gegen eine Polizeitaktik, die letztlich den Rechten den Auftritt erschwert – aber es muss schon die Frage gestellt werden, ob es dazu solch massiver und teilweise brutaler Polizeieinsätze bedarf, wie wir sie beobachten mussten. Immer wieder haben sich Einsatztrupps in Stärke von 10 bis 30 Beteiligten aus dem die Demonstration umgebenden Polizeikordongelöst und in die Menge gestürzt, um unter Einsatz von Pfefferspray, Gummiknüppel und Faustschlägen einzelne Personen aus der Menge zu catchen. Nach den Gründen für diese Übergriffe gefragt, hieß es, dass hier Gesetzesvergehen geahndet würden. Außer einem in die Leere gehenden Flaschenwurf und häufigeren Vermummungen -„als Gesichtsschutz vor Sprays und der ständigen Filmerei und Fotografiererei“, wie die meist jugendlichen Autonomen sagten – haben wir Älteren, die sich als Puffer vor den Polizeikordon gestellt hatten, keine Vergehen feststellen können. Wenn solches Verhalten aber zu ahndungswürdigen Vergehen hochstilisiert werden, gegen die zudem noch mit Brachialgewalt eingeschritten wurde, muss man nach den Motiven fragen. Ich jedenfalls mag nicht glauben, dass hier nur gelangweilte PolizeibeamtInnen ihr Mütchen kühlen wollten. Wenn doch, müsste bei zukünftigen Naziaufmärschen dafür Sorge getragen werden, dass in solch delikaten Aktionen keine Schlägertrupps, sondern Ordnungshüter mit mehr Gespür für den Wert demokratischer Freiheiten zum Einsatz kommen. Mit dem mitmarschierenden Innensenator verbindet uns Bürger der freien Hansestadt Bremen der demokratische Grundkonsens, nach dem faschistische und totalitäre Truppen bei uns keinen Platz haben.
H. C., auch als Leserbrief veröffentlicht
Ich habe mit einer Reihe von Bekannten und meinem Lebensgefährten G. R. vor der Polizeisperre zwischen Waller Straße und Ritter-Raschen-Platz ausgeharrt, bis die NPD unverrichteter Dinge umkehren musste. Immer wieder beobachtete ich, wie Polizeitrupps ohne erkennbaren Grund in die Menschenmenge vorstießen, um sich einzelne Demonstranten mit recht rüden Methoden herauszugreifen. Als sich direkt vor meinen Augen drei bis vier Polizisten auf einen ca 14-jährigen Jungen stürzten, ihn mit den Knien zu Boden drückten und mit den Gummiknüppeln auf ihn einschlugen, konnte ich mich als Mutter und Großmutter nicht zurückhalten, den Jungen beschützen zu wollen. Ich wurde von meinem Lebengefährten gewaltsam daran gehindert, mich mit in das Getümmel zu stürzen. So wurden mir wahrscheinlich Schläge erspart, denn wenige Augenblicke später warf sich ein Mann, der sich später als Vater des Jungen herausstellte, dazwischen und wurde ebenfalls verdroschen.
H. W., G. R. und 5 weitere Personen
Ich war mit meinem neunjährigen Sohn zusammen auf der Demonstration. Nachdem wir uns mit Kinderbüchern wie „Als Hitler das rosarote Kaninchen stahl“, „Ich bin ein Stern“ oder „Brundibar“ auseinandergesetzt hatten, war es auch ihm ein Anliegen, sich an den Protesten gegen Nazis zu beteiligen.
Die erste Polizeisperre öffnete die Polizei aus meiner Sicht (fast) freiwillig. Gewalt aus Reihen der DemonstrantInnen konnte ich nicht beobachten. Als ich selbst die Stelle kurz nach dem „Durchbruch“ passierte, wurden wir von einer ganzen Gruppe Polizisten bedroht, die mit Spraydosen im Anschlag direkt in unsere Gesichter zielten (aber nicht „abdrückten“) und uns im Befehlston aufforderten, sofort weiterzugehen. Am Boden, kaum zu sehen hinter all den schweren Polizeistiefeln und mit dem Gesicht nach unten, lag ein junger Mann (mit heller Hose).
An der zweiten Sperre verkündete eine Lautsprecherdurchsage der Polizei, dass die Ansammlung als Versammlung nach dem Versammlungsrecht genehmigt sei, wodurch ich mich mit meinem Sohn sicher wähnte. Doch unmittelbar danach griff die Polizei die Kundgebung für mich völlig überraschend an. Ich rettete mich mit meinem Sohn in einen Vorgarten. Dorthin wurde auch ein Jugendlicher geschafft, der von Polizisten verprügelt worden war. Er war bleich und benommen und wurde dort im Vorgarten so gelagert, dass sein Kreislauf sich stabilisieren konnte. Kurz darauf griff ein ganzer Stoßtrupp Polizisten völlig grundlos den Lautsprecherwagen der Veranstalter an, der direkt auf Höhe des Gartenzauns zum Stehen gekommen war, hinter den wir uns geflüchtet hatten. Die Moderatoren auf dem Wagen bemühten sich bis zur letzten Sekunde um Verständigung mit der Polizei, riefen zu Besonnenheit auf und signalisierten der Polizeiführung gegenüber Gesprächsbereitschaft. Es nutzte nichts. Ich habe aus nächster Nähe erlebt, wie brutal und rücksichtslos die Polizisten vorgingen. Erneut setzten sie auch hier Pfefferspray ein. Scharen von Menschen strömten nun zu unserem „Zufluchtsort“ mit Verletzungen durch den Gaseinsatz. Von überall wurden Wasserflaschen gereicht, um die Folgen der Verätzungen wenigstens notdürftig zu lindern.
Ich sah mich gezwungen, die noch immer erlaubte Kundgebung zu verlassen. Überall lag der Geruch von Pfefferspray in der Luft, und ich hatte Angst, meinen Sohn nicht vor der völlig rücksichtslosen Aggressivität der Polizei schützen zu können. „So stelle ich mir den Krieg vor“, kommentierte er das Erlebte geschockt.
In einer Nebenstraße, die direkt von der Waller Heerstraße abgeht, wurden wir schließlich noch Augenzeugen der Verhaftung eines Jugendlichen (auch er keineswegs in schwarz gekleidet und vermummt). Er war von einer Gruppe von etwa 7 Polizisten in Kampfausrüstung in einen Hauseingang gedrängt worden, und nach allem, was ich erlebt hatte, wollte ich ihn in dieser Situation nicht allein lassen. Er wirkte noch recht jung und eingeschüchtert. Ich fragte ihn mit der gebotenen Distanz vom Bürgersteig aus, ob ich jemanden benachrichtigen solle (z. B. seine Eltern). Sofort stürzten sich drei Beamte auf mich und meinen Sohn, den ich an der Hand hatte. Sie drohten mir an, mich sofort in Polizeigewahrsam zu nehmen, wenn ich mich nicht unverzüglich entfernen würde. Von zwei Polizeibeamten wurde ich dann mit Nachdruck hinter eine Polizeiabsperrung geführt.
R. G.
Ich habe mir von einem Einsatztruppenleiter aus Schleswig Holstein Namen und Dienstnummer geben lassen, da er bei einem Catch-Einsatz ohne Grund auf zwei Demonstranten mit der Faust einschlug. (Dafür gibt es noch einen weiteren Zeugen zur Verfügung steht.) Ich habe bisher keine Anzeige erstattet, da ich zu dem Ergebnis kam, dass wir uns kein Ergebnis erwarten, welches der Mühe wert sei.
H. C.
Ich nahm als Gröpelinger Anwohnerin an der Demonstration teil. Nach dem Überschreiten der genehmigten Grenze in der Höhe der Grasberger Straße sah ich mit eigenen Augen, wie die Polizei mitten durch die jungen DemonstrantInnen scharfe, sehr erregte Schäferhunde ohne Maulkorb führte. Ich habe dann gesehen, wie ein anwesender Arzt die Bisswunde einer jungen Demonstrantin reinigte und versorgte.
Als examinierte Altenpflegerin entschloss ich mich in der Folge, die meist selbst sehr jungen Sanitäter der Demonstration zu unterstützen, weil es immer wieder von der Seite „Alte Waller Straße“ zu Übergriffen auf die dort stehenden schwarz gekleideten Kinder und Jugendlichen kam.
Es wurden einzelne DemonstrantInnen (zumeist Mädchen und Jugendliche mit sichtbarem Migrationshintergrund) gezielt herausgegriffen, mit Pfefferspray besprüht oder gar verprügelt.Weiterhin sah ich, wie ein mitlaufender Junge von höchstens 12 Jahren mit Migrationshintergrund gezielt von zwei in schwarz gekleideten Polizisten verprügelt wurde und dabei eine Schulterluxation erlitt (Auskugeln des Schultergelenks). Der Junge wurde von seinen Bekannten – ca. im gleichen Alter – zu einem Arzt begleitet. Er war kein angereister autonomer Gewalttäter. Ich, die selbst im Lindenhofviertel lebt, sehe ihn öfter in der Nachbarschaft und einem Supermarkt an der Gröpelinger Heerstraße an der Kasse. Er scheint also ein Anwohner zu sein.
Neben dem Ausspülen von Augen bei drei Demonstrantinnen hatte ich ein 14 jähriges Mädchen zu versorgen. Sie reagierte auf das gezielte Besprühen ihrer Atemwege mit zweimaligem, schwallartigen Nasenbluten. Ihr war gleichzeitig schwindelig, und sie hatte Schüttelfrost. Dies hätten erste Symptome von Kreislaufversagen im Vorfeld eines allergischen Schocks sein können. In Anbetracht der Gefährdung begleitete ich das Mädchen durch die Absperrung zum nächsten Rettungswagen. Dabei ist hervorzuheben, dass uns die Bremer Polizisten anstandslos hinter die Absperrung ließen, während die „Ordnungshüter“ in den schwarzen Overalls sogar Anstalten machten, mich als Ersthelferin mit Ausweis zu schlagen. Dies verhinderten jedoch die Bremer Polizisten, die uns nach einer kurzen Schilderung der Sachlage sogar ohne Aufnahme der Personalien auf dem schnellsten Weg zum nächsten Rettungswagen führten. Die Vierzehnjährige wurde im Rettungswagen versorgt. Sie wollte jedoch nicht zur Beobachtung ins Krankenhaus. Auch sie war keine „Autonome“, sondern eine Realschülerin aus dem Bremer Umland, die sich mehr davor fürchtete, dass ihre Eltern von ihrem „Ausflug“ nach Bremer erfahren würden, als vor den Konsequenzen eines allergischen Schocks.
H. R.
denn die, die wirklich militant vorgegangen sind, sind eindeutig in den Reihen der Polizei zu finden. Da ich in der 5. oder 6. Reihe vor der Absperrung durch Wasserwerfer stand, konnte ich genau beobachten, wie die Polizisten in kleinen Grüppchen gemeinsam einen Demonstranten aus der Menge griffen und ihn in Gewahrsam nahmen. Dabei gab es meines Erachtens keine speziellen Auswahlkritierien. Gegriffen wurde derjenige, der sich eben gerade in greifbarer Nähe befand. Besonders akut wurde dieses Vorgehen dann nach der Bekanntgabe der Auflösung der Nazi-Demo. Sofort begannen die Polizisten weiterhin wahllos Demonstranten herauszugreifen. (...) Es ist außerdem nicht hinzunehmen, dass Jugendliche und Heranwachsende, die sich kritisch mit der deutschen Vergangenheit auseinandersetzten und dafür kämpfen, dass rechtsradikale und nationale Strukturen nicht noch mehr Fuß fassen können, kriminalisiert werden, den Stempel „militanter Autonomer“ erhalten und dementsprechend von der Polizei behandelt werden.
E. G.
Mutige Gewerkschafter und andere ältere Leute standen schließlich direkt vor den Polizisten und haben diskutiert und deeskaliert. Ich habe zusammen mit einem Prof. für Strafrecht aus Hamburg, der aber in Walle wohnt und Demoteilnehmer war, versucht die Einsatzleitung zu erreichen, beim zweiten Mal leider misslungen, da waren die für uns nicht mehr zu sprechen, weil sei „beschäftigt“ waren. (...) Dann wurde ich von Anwohnern aus der Langeooger Str. angerufen, ich möchte doch kommen und vermitteln und deeskalieren. Direkt bei ihnen vor der Tür gebe es einen Polizeikessel und in dem Kessel 100 Demonstranten. Da bin ich denn auch hin. Die Polizei hat mich in den Kessel gelassen. Aber zu reden war mit den Polizisten nicht. Die haben alle bis nach 18 Uhr festgehalten und erkennungsdienstlich behandelt.
Name des Zeugen bekannt